Dionysos in der Literatur der Goethezeit. Konstellationen orphischer, bakchischer und eleusinischer Motive
Mit dem Verweis auf ein Phänomen, das er mit dem Begriff des Dionysischen bezeichnete, glaubte Friedrich Nietzsche, das Verständnis der antiken Kunst um ein rauschhaft-orgiastisches Moment vervollständigt zu haben. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich eine Lesart durchgesetzt, die die verschiedenen Erscheinungsformen des Gottes – und überhaupt die Frage nach seiner Rolle – fast automatisch durch die seit Nietzsche virulent gewordene Gegenüberstellung des Apollinischen und des Dionysischen filtert. Diese Brille wirkt, trotz aller philologischen Differenzierungen der letzten Jahrzehnte, in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung fort und überlagert häufig die heterogenen, beweglichen Figurationen, die die deutschsprachige Literatur zwischen 1770 und 1830 tatsächlich entwarf.
Die Dissertation legt diese Schichtungen frei und nimmt die goethezeitlichen Texte in ihrer eigenen mythopoetischen Logik ernst. Dabei zeigt sich, dass Dionysos selten als handelnde Figur auftritt, sondern als ein Prinzip der Verwandlung, das sich in Randzonen, Zwischenräumen und metonymischen Verschiebungen bemerkbar macht. Rausch, Traum, orgiastischer Exzess, Wahnsinn, Androgynie oder dunkle Restbestände einer kosmogonischen Vergangenheit – all das verweist auf einen Gott, der sich in einer Vielzahl von Masken und Spuren äußert.
Zugleich geraten etwa die antiquarischen und mythentheoretischen Ansätze Friedrich Creuzers oder die spekulative Religionsphilosophie Friedrich Schellings in einen neuen Zusammenhang: als Wissensfelder, in denen sich die damalige Vorstellung des Gottes von Bacchus zu Dionysos verschiebt. So entsteht eine Konstellation, in der der Gott weder als bloßer Zeuge des Klassizismus noch als Vorläufer romantischer Entgrenzung erscheint, sondern als ein bewegliches, synkretistisches Moment, das an unerwarteten Stellen ästhetische Innovation katalysiert.
Die Arbeit lädt dazu ein, die Goethezeit nicht länger unter der nachträglichen Einheitsfigur des ‘Dionysischen’ zu lesen, sondern die verstreuten, angedeuteten oder nicht vollständig ausartikulierten Figurationen des Gottes als poetologische Konstellationen zu begreifen, in denen sich nicht nur historische Wissensbewegungen, sondern auch die Formkräfte der Literatur selbst zu Wort melden.
